Rezension über den Vortrag von Bernd M. Kraske über die Tagebücher Thomas Manns im Wiener Cafehaus, Lübeck Es war eine anspruchsvolle und abwechslungsreiche literarische Veranstaltung des "Lübecker Autorenkreises und seine Freunde e.V.". Am 22.Februar 2024 fand im reichlich gefüllten Wiener Cafehaus, Lübeck, nach einführenden Worten Klaus Rainer Golls, des 1.Vorsitzenden der literarischen Vereinigung, ein Vortrag mit dem Reinbeker Literatuwissenschaftler und Autor Bernd M. Kraske statt. Er referierte über die Tagebücher Thomas Manns und unternahm damit den schwierigen Versuch, die vielen tausend Seiten umfassenden Tagebücher Thomas Manns zu strukturieren und ihren Wesenskern zu erfassen. Bernd M. Kraske ging dabei von der These aus, dass die beinahe täglich geführten Notate nicht nur als bloße Diarien zu lesen sind, sondern dass sie in großen Teilen einen eigenständigen Platz in Thomas Manns Gesamtwerk beanspruchen dürfen. Ein Tagebuch hat Thomas Mann von seiner Gymnasialzeit bis wenige Tagevor seinem Tode geführt. Den "fliehenden Tag" festzuhalten, "weniger zur Erinnerung (...) als im Sinn der Rechenschaft" war ihm ein starkes Bedürfnis, mit einem ihrer Herausgeber darf man sagen, dass sie "lebenswichtige Funktion" besaßen. Die dicken, in Wachstuch gebundenen Schreibhefte mit Notaten in deutscher Schrift hielt Mann streng verschlossen; sie waren in keiner Weise für andere Leser gedacht. (Daneben führte er stärker auf einzelne Schreibvorhaben bezogene "Notizbücher", die ihrerseits Anfang der 1920er Jahre durch Konvolute mit "Arbeitsnotizen" abgelöst wurden.) 1) Hugh Ridley/ Jochen Vogt , in KLG S. 667 Von den Tagebüchern hat Mann zahlreiche Jahrgänge verbrannt, und zwar bereits 1896 in München die der Jugendzeit (ironisch spricht er von eiiner "Säuberung"), sodann im Mai 1945 in Pacific Palisades die Jahrgänge von 1922 bis 1932 . Die Edition der erhaltenen Tagebücher 1918 bis 1921 sowie 1944 bis 1955 erfolgt gemäß einer handschriftlichen Verfügung erst "20 years after my death", tatsächlich von 1977 bis 1995. Auch hier ist unübersehbar, wie sehr diese Aufzeichnungen- bzw. die festgehaltenen Erlebnisse- auf das "Lebens-Werk" des Autors hin orientiert sind. Nur scheinbar spricht dagegen, dass weite Passagen der Tagebücher die alltäglichen Abläufe und banale Details sorgsam registrieren. Die erledigte Korrespondenz , "Rasur und Maniküre", Appetit und Speisenfolgen, die Beschaffenheit der Unterwäsche und immer wieder, zweifellos obsessiv, die eigenen Stimmungen und körperlichen Befindlichkeiten füllen Seite um Seite. Das Tagebuch ist auch der einzige Ort, an dem Thomas Mann sich ganz unverstellt über seine sexuellen Empfindungen, insbesondere seine homosexuellen Wünsche ausspricht. Neben die schonungslose Selbstanalyse tritt in den Tagebüchern aber auch eine ebenso unverblümte Eitelkeit und Überempfindlichkeit gegen Kritik- als Kehrseite seiner "Repräsentivität" und Ausdruck bisweilen überreizter Sensibilität. Derartige Gesichtspunkte haben bei der Publikation der Tagebücher das lebhafteste Interesse evoziert. Dagegen sollte man sich der Mahnung eines Kritikers erinnern, das Intimste und Innerste sei nicht in solchen Notizen, sondern in den Werken zu suchen. Das entspräche jedenfalls auch dem Selbstverständnis Thomas Manns, der vor allem bei seinen prekären Künstlerfiguren, von Aschenbach im "Tod in Venedig" bis zu Leverkühn im "Doktor Faustus", auf das "Geheimnis ihrer Identität", also auf ihren autobiografischen Kern hingewiesen hat. 2) Hugh Ridley/Jochen Vogt, in KLG S.668 Bernd M. Kraske wurde 1947 in Hungen/Oberhessen geboren. Schulzeit und Studium in Mainz, seit 1972 in Hamburg. Mitarbeiter amLiteraturwissenschaftlichen Seminar und Lehrbeauftragter am Seminar für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Hamburg. Von 1985 bis 2012 Leiter der Kultur- und Veranstaltungseinrichtungen der Stadt Reinbek. Zahlreiche Publikationen zur deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. Seit 1998 wöchentliche Rundfunkbeiträge zu aktuellen Themen aus dem Kunst- und Kulturbereich. Bernd M. Kraske, der akribisch recherchiert hatte und einfühlsam, nuanciert und akzentuiert las, verband in seinem vor allem auch wegen der vielen Auszügen aus den Tagebüchern anschaulichen und lebendigen Vortrag virtuos und brillant Wissenschaftlichkeit und Literarizität. Er wurde nach einer regen Diskussion unter der Leitung Klaus Rainer Golls von den zahlreichen Zuhörerinnen und Zuhörern mit sehr viel Beifall bedacht. |